Fragment 4

Tornados


Ich stelle mir die Identität wie ein Gebäude vor. Wenn wir uns im Leben verändern und weiterentwickeln, ändern wir die Dekoration in gewissen Räumen und auch mal tragende Pfeiler. Das ist ein ganz normaler Prozess. In meinem Fall ist es aber so, als wäre ein Tornado durchs Haus gefegt, der alles in Trümmer gelegt hat.

Zweimal.

Am Abend bin ich jeweils von der Uni heimgekommen und konnte nur noch weinen. Den ganzen November hindurch. Ich spürte so eine tiefe Traurigkeit in mir. Ein Unwohlsein und eine Leere, die ich mir nicht erklären konnte. Ich dachte, das sei vielleicht eine Art Liebeskummer, denn die Frau, die mich im August total geflasht hatte, zeigte nicht viel Interesse an mir. Gleichzeitig schien mir die Krise zu tief für Liebeskummer, auch wenn ich keine Vergleichsgrösse dafür hatte. Nun, im Nachhinein, weiss ich, dass es tatsächlich kein mal d’amore war, der kam erst ein paar Monate später, als ich mich dann wirklich von dieser Frau abgewendet hatte.


Ich habe im November sehr viel nachgedacht, in mich hineingespürt, herauszufinden versucht, weshalb es mir so unglaublich schlecht ging. Was mir in dieser Zeit sehr geholfen hat, sind das Niederschreiben von Gedanken und Gefühlen und vor allem das Malen. Wenn ich male, kann ich meine Emotionen auf die Leinwand fliessen lassen. Allein das ist schon sehr befreiend. Ich glaube, ich habe sehr viele Kontraste in mir und das zeigt sich auch in meinen Bildern. Beim Malen denke ich nicht bewusst nach, aber ich komme in einen Flow, eine Art Trance vielleicht, und es kommen Themen hoch, die ich später rational bearbeiten kann. Auch wenn ich sagen muss, dass mich das Nachdenken in dieser Zeit nicht wirklich weitergebracht hatte. Der Zustand dauerte an, ich überlegte mir, psychologische Hilfe zu suchen, hatte aber keine Energie dazu. Dann ging es mir innert weniger Tage immer besser und besser bis zu dem Punkt, wo ich vor dem Spiegel stand, mir in die Augen schaute und dachte: Ahh che bello, finalmente so chi sono, sono lesbica. Questa cosa è finita.  – Oh wie schön, endlich weiss ich, wer ich bin, ich bin eine Lesbe. Diese Krise ist vorüber. Es war überraschend für mich, dass ich mich plötzlich so erleichtert fühlte, denn mein Lesbisch-Sein war keine neue Erkenntnis. Ich hatte mein inneres und zum Teil auch äusseres Coming Out eigentlich bereits im August gehabt, wie ich meinte. Erst nach diesem ersten Tornado verstand ich, dass ich meiner sexuellen Identität innerlich offenbar doch noch nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet hatte.

Etwa ein Jahr vor dieser Identitätskrise hatte ich mich zum ersten Mal in eine Frau verliebt. Es war ein neues, aber sehr deutliches Gefühl. Trotzdem hatte ich eher abwartend reagiert. Nach dem Motto: Schauen wir mal, ob es nochmals passiert. Es ist nochmals passiert und dann im August ein weiteres Mal, als ich in einer Bar eine junge Frau kennenlernte. Zwischen ihr und mir hat sich nur eine lose Freundschaft entwickelt, aber meine Gefühle waren so deutlich, dass ich sehr schnell meinen Freunden und meiner Mutter davon erzählte. Ich vertraue meiner Mutter sehr und habe mit einer guten Reaktion gerechnet, da ich sie schon mein ganzes Leben lang über homophobe Personen schimpfen höre. Sie war über mein Outing dennoch sehr überrascht; es ist wohl doch etwas Anderes, wenn sich deine eigene Tochter outet. Aber sie hat etwas gesagt, was ich damals sehr schön fand: «Dann werde ich also irgendwann zwei Töchter haben.» Damit zeigte sie mir, dass sie nicht nur mich akzeptiert, sondern auch die Person, die ich einmal heimbringen werde.

Mit dem Rest meiner Familie habe ich noch nicht gesprochen; das wird vermutlich auch nicht so eine glatte Sache. Auf der Seite meines Vaters sind die Konventionen sehr traditionell: Erst heiratet die erstgeborene Tochter, dann erst die zweitgeborene. Eine Schwangerschaft vor der Ehe ist undenkbar. Homosexualität auch. Besonders meine Tante, die mir sehr wichtig ist und der ich mich sehr nahe fühle, wird Mühe damit haben.


Mein äusseres Coming-Out ist also noch relativ frisch und noch nicht abgeschlossen, aber ich dachte im Spätsommer wirklich, ich sei innerlich mit mir soweit im Reinen. Aber vermutlich hatte ich in meiner Verliebtheit einfach keine mentalen und emotionalen Kapazitäten mehr gehabt, mich wirklich damit zu beschäftigen, dass ich soeben meine ganze Identität in die Luft gejagt hatte. Wenn du immer überzeugt bist, dass du mal einen Mann heiraten, ja, dass du dich überhaupt erst mal in einen Mann verlieben würdest… Und dann entdeckst du, dass alles ganz anders ist… Das stellt das Bild, das du dir von deinem Leben gemacht hattest, total auf den Kopf. Ich brauchte offenbar im November einen Moment, all das zu fassen, zu ordnen und wieder aufzubauen. Eigentlich dauerte die Krise ja nicht lange – ein Monat ist nichts im Vergleich zur Leidenszeit, durch die gewisse andere Personen gehen. Vermutlich war ich trotz allem schon bereit, meine sexuelle Orientierung zu akzeptieren. Ich musste meiner Identität nur kurz zurück auf die Füsse helfen. Das dachte ich zumindest.


Ich stand also vor dem Spiegel, schaute mir in die Augen und dachte:

Che bello, finalmente so chi sono. Questa cosa è finita. – Wie schön, endlich weiss ich, wer ich bin. Die Krise ist vorbei. –

Dabei braute sich schon der nächste Sturm zusammen.

Die sexuelle Orientierung ist eine Sache. Geht es um deine Geschlechtsidentität, stellst du absolut alles in Frage.

Zu dem Zeitpunkt hatte ich bereits angefangen, mich männlicher zu kleiden, im Stil von Butch-Lesben. Das war ein ganz natürlicher Impuls und in solchen Kleidern fühlte ich mich sofort sehr wohl. Sogar richtig euphorisch! Ich hatte mich mein ganzes Leben lang noch nie so wohl in meinem Körper gefühlt. Ich begann dann auch nach und nach, meine Haare zu schneiden. Immer etwas kürzer. Und je kürzer die Haare wurden, desto besser fühlte ich mich. Doch diese Anfangseuphorie war nicht von langer Dauer. Mist, du bist ein Mann. Ging mir durch den Kopf, als ich mein neues Erscheinungsbild so betrachtete. Aber ich bin doch kein Mann. Aber ich fühle mich auch nicht als Frau. Das hat mir wieder den Boden weggezogen. Ich erkannte die Emotionen wieder, durch die ich schon im November gehen musste, und verstand immerhin sofort, dass es sich um eine Identitätskrise handeln musste. Und ich verstand auch, dass es um meine Genderidentität ging. Es kam mir so vor – und das sehe ich erst jetzt im Rückblick so klar – als hätte ich während Jahren getrennt von meinem Körper gelebt. Völlig abgeschnitten von mir selber. Als wäre mein Körper gar kein Teil von mir gewesen. Als hätte ich mich jahrelang quasi von aussen gesehen. Die da existiert, weil die Realität halt leider so ist, aber ich lebe in meiner eigenen Welt. Erst durch die Auseinandersetzung mit meiner Identität bin ich wieder in meinen Körper zurückgekehrt und merkte, dass gewisse Dinge einfach nicht funktionierten. Ich spürte zum Beispiel ganz deutlich, dass ich meine Brüste nicht mehr ertragen konnte. Gleichzeitig spürte ich aber auch, dass ich kein Mann bin und auch keiner werden will.

Diese zweite Krise war viel, viel, viel schwieriger als die erste. Die sexuelle Orientierung ist eine Sache. Geht es um deine Geschlechtsidentität, stellst du absolut alles in Frage. Ich konnte mich auf nichts Anderes mehr konzentrieren und recherchierte stundenlang im Internet über Transidentität. In dieser Zeit hatte ich zwei Examen an der Universität und ich habe beide nicht bestanden. Es wären Prüfungen gewesen, die ich sonst sicher locker geschafft hätte.


Zufällig habe ich dann Stand-up Comedians entdeckt, die sich als non-binär identifizieren und das in ihren Sketchen thematisieren. Das hat mich sofort angesprochen und ich habe angefangen, mich im Internet über Non-Binarität zu informieren und zu verstehen, dass es mehr als zwei Genderidentitäten gibt, mehr als Mann und Frau. Insbesondere persönliche Erfahrungsberichte haben sofort dieses Gefühl in mir ausgelöst: Das bin ich! Endlich macht alles Sinn!
Es macht Sinn, dass es mir in der Primarschule noch gut ging, als unter Freunden noch nicht so ein grosser Unterschied zwischen Jungs und Mädchen gemacht worden ist. Es macht Sinn, dass ich ab dem Moment, als sich Jungs- und Mädchengruppen bildeten, das Gefühl hatte, zu keiner der Gruppen zu gehören. Es macht Sinn, dass ich mich von meinem Körper getrennt hatte, als die Gesellschaft begonnen hatte, mich als Frau zu lesen. Es macht Sinn, dass sich in mir alles verkrampft, wenn man mich hier in der Westschweiz “madame” nennt.

Nach dieser Erkenntnis habe ich einen Psychologen kontaktiert, der mir nun dabei hilft, innerlich Ordnung zu schaffen und zu verstehen, was ich äusserlich ändern muss, um mich wohl zu fühlen.

Ich habe sicher noch einen weiten Weg vor mir. Ich möchte meiner Familie erklären, was ich auf emotionaler Ebene im vergangenen Jahr alles durchlebt habe. Ich bin nämlich mittlerweile überall als non-binär geoutet, ausser im Tessin. Dort habe ich mich erneut nur meinen engsten Freunden und meiner Mutter anvertraut. Erst in einem langen Brief, dann in Gesprächen. Meine Mutter ist wie ein Fels für mich, auch wenn ihr mein Coming Out als non-binäre Person deutlich mehr Mühe macht als mein erstes Outing als lesbische Frau. Ich bin nicht sicher, ob sie die ganze Tragweite erfasst. Vielmehr habe ich das Gefühl, dass sie meine sichtbaren Veränderungen, mein deutlich männlicheres Erscheinungsbild, trotz aller Erklärungen eher als eine ästhetische Wahl ansieht und nicht als eine tiefgreifende Frage der Identität.


Auch ich selber muss noch lernen, mich besser zu verstehen. Ich muss herausfinden, wer ich genau bin und wer ich sein will. Noch sehe ich nicht genau den Weg, aber ungefähr die Richtung. Ich möchte mich weit genug vom Frauenbild entfernen, um nicht von allen als Frau wahrgenommen zu werden, ohne aber als Konsequenz davon in die Schublade «Mann» gesteckt zu werden. Es gibt keine einfachen Antworten darauf, welche Schritte ich wirklich gehen möchte und erst recht nicht, wann.

Wofür ich mich aber bereits entschieden habe – und das war eine Entscheidung, die auf viel Reflexion beruhte – ist die Verwendung von einem geschlechtsneutraleren Namen an der Universität, im Alltag und somit auch, wenn ich meine Bilder unterzeichne. Das war ein wichtiger Schritt für mich, der zumindest an der Uni sehr gut aufgenommen und akzeptiert wurde. Auch wenn zwischen Akzeptanz und wirklichem Verstehen natürlich Welten liegen. In einem Seminar mit relativ wenigen Teilnehmenden habe ich mich mit meinem genderneutralen Namen vorgestellt und der Dozentin nach dem Kurs den Grund dafür erklärt, weshalb mein Name nicht mit dem Namen auf ihrer Präsenzliste übereinstimmte. Sie hat sehr gut reagiert. Eine Woche später, als ich eine Gruppenarbeit mit zwei Frauen machte, bezeichnete uns die Dozentin dann allerdings als «girls team». Das war sicher keine bewusste Wahl und es steckte erst recht keine böse Intention dahinter, aber es schmerzte dennoch.


Was mich auch beschäftigt, ist die Frage, ob ich im Raum der Lesben noch meinen Platz habe, und zwar aus der Sicht der lesbischen Frauen. Schliesslich bin ich ja gar keine Frau. Ich selber fühle mich sehr mit der lesbischen Erfahrungswelt verbunden. Wenn ich zum Beispiel einen Text über ein Frauenpaar lese, fühle ich mich emotional relativ nahe. Dies passiert mir beispielsweise nicht, wenn ich über ein Männerpaar und erst recht nicht, wenn ich über ein heterosexuelles Paar lese. Ich fühle mich in lesbischen Kontexten – zumindest teilweise –  wohl und repräsentiert. Dennoch frage ich mich, ob ich aus der Sicht einer frauenliebenden Frau da reinpasse oder ob sie mich in einer anderen Kategorie sieht. Vor allem auch, falls ich anfinge, Hormone zu nehmen und mich körperlich verändern würde.


Trotz all dieser Fragen geht es mir jetzt wirklich sehr viel besser. Am Anfang meiner zweiten Krise war ich an einen Punkt völliger Apathie gelangt. Ich hatte keine Kraft mehr für die Uni, hatte kaum mehr ein soziales Leben und das war mir auch egal. Jetzt hingegen, seit ich mir langsam meine wirkliche Identität erobere, spüre ich eine neue Selbstsicherheit und ich habe richtig Lust auf neue Kontakte. Hier in der Romandie konnte ich bereits einige non-binäre Personen kennenlernen und es tut sehr gut, sich richtig verstanden zu fühlen. Wenn ich ihnen erzähle, wie es mir geht oder was mich gerade beschäftigt, höre ich: «Ja, diese Erfahrung habe ich auch gemacht. So ging es mir auch. So geht es mir auch. Diese Emotionen habe ich auch gespürt. Diese Fragen stelle ich mir auch.” Das ist natürlich sehr schön und ich fühle mich viel weniger alleine. Ich muss mich nicht mehr fragen, ob das alles seine Gültigkeit hat oder ob ich diese spezielle Schneeflocke bin, die ein bisschen durcheinander ist und irgendeinem Trend folgt. Denn an solchen Anlässen treffe ich Personen aus allen Altersgruppen und merke, dass viele Menschen non-binär sind. Sie werden einfach erst jetzt für mich sichtbar.




In den letzten zwölf Monaten haben zwei Tornados meine Identität zersplittert. Ich habe noch nicht alle Teile zusammengefügt, aber ich fühle, dass das Gebäude, das ich errichte, auf einem stabilen Fundament steht. Getragen von den beiden neuplatzierten Grundpfeilern - meiner sexuellen Identität und meiner Genderidentität - kann ich nun mein wirkliches Ich entfalten




Alle Bilder wurden von Alias zur Verfügung gestellt. Herzlichen Dank!



Come together

Instragram mit weiteren tollen Bildern von Alias:
https://www.instagram.com/lee_antiopa/

Ekivock, Verein non-binärer Personen in der Romandie:
https://www.instagram.com/ekivock.nb/

Romanescos, Verein genderqueerer Personen in der Deutschschweiz: https://romanescos.ch/

Queerbox, Plattform mit Erfahrungsberichten von und für non-binäre, gender non-conforming, genderqueere Personen:
https://www.instagram.com/queerbox_ch/



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