Fragment 6

Jüpli, Cüpli und andere Heterospielchen

Anfang der 80er-Jahre, in einem Büro vom Sonntagsblick. Schon wieder hat der Korrektor meinen neusten Artikel völlig zerrissen. Sprachen waren in der Schule nie meine Stärke und es lag nicht auf der Hand, dass ich je im Journalismus landen würde. An Montagssitzungen an meiner ersten Stelle bei einem Bieler Kollektiv, das Schweizer Zeitungen mit journalistischen Artikeln belieferte, hatte das ganze Team über meine Sätze gelacht. Aber kann es sein, dass ich wirklich so schlecht schreibe? Diese Erinnerungen sind Jahre her und den Bielern ging es im Grunde genommen nicht um die Sätze, sondern darum, dass eine importierte Zürcherin sie geschrieben hatte. Oder? Und bei diesem Korrekturchaos hier auf der Sobli-Redaktion geht es doch auch gar nicht wirklich um meinen Schreibstil. Oder doch? Ich schreibe einen nächsten Sonntagsblick-Artikel, bitte einen vertrauenswürdigen Kollegen, seinen Namen darunter zu setzen und ihn abzugeben. Der Text kommt quasi ohne Korrekturen zurück und wird unter seinem Namen genauso publiziert, wie ich ihn aufgesetzt hatte.


«Die Produktion vom Sonntagsblick ist übler als der Inhalt der Zeitung.»

Als der Tagesanzeiger neu die Sonntagszeitung herausbrachte, wechselten zwei Kolleg_innen und ich vom Fernsehen zu Ringier, zum Sonntagsblick, in der Annahme und Hoffnung, dass auch dieser aus der bestehenden Boulvard-Wochenendausgabe ein politisches Produkt machen würde. Was sich nach Aufbruch anfühlte, entpuppte sich bald als schwierigste Etappe in meiner ganzen Berufslaufbahn. Was ich dort erfahren habe, war massivstes Mobbing; die damaligen Produktionsveratwortlichen der Zeitung waren übler als der Zeitungsinhalt, das wurde mir rasch klar. Natürlich lässt es sich nicht beweisen, aber für mich steht es ausser Frage, dass mein Lesbisch-Sein der Grund dafür war. Vielleicht nicht direkt, aber indirekt, weil ich bei gewissen Spielchen nicht mitmachen wollte, ja nicht mitmachen konnte. Wäre ich im Jüpli gekommen wie die Heterokolleginnen, etwas nackte Beine, etwas lange Haare, wäre ich mit den Herren Cüpli trinken gegangen, ja, hätte ich Teil davon sein können, hätte ich nie solche Probleme gehabt. Da bin ich mir sicher. Aber was hätte ich denn gemacht, wenn sie beim Champagner wieder einen Frauenwitz rissen? Gar einen Lesben- oder Schwulenwitz erzählten? Mitlachen?


«Queersein sei heute kein Problem mehr. Das stimmt in gewissen Kontexten.»

«Gehöre ich dazu oder gehöre ich doch nicht dazu ?». Diese Grundfrage, dieses Gefühl, schwingt in meinem Leben immer wieder mit und zwar oft deshalb, weil in allen Lebensbereichen so viel über unausgesprochene heterosexuelle Verhaltensregeln läuft. Viele Personen, auch queere, sagen heute, dass Queersein gar kein Problem mehr ist. Das stimmt in gewissen Kontexten, aber unsere Erfahrungen und Biografien sind dennoch anders.


Nach der Oberstufe habe ich in Zürich die Diplommittelschule besucht, an der damals nur junge Frauen waren. Die meisten wollten danach ans Kindergärtnerinnen- oder Hortnerinnen-Seminar. Schon da passte ich nicht ganz rein – ich hatte keine Ahnung, was ich nach der Schule machen wollte, aber die Vorstellung, noch als 60-Jährige automatisiert in kindgerechter Stimmlage eine Oktave höher als alle anderen zu sprechen, war für mich ein Gräuel. Auch auf der «Schatz-Alp», wie wir die Anlage ums traditionelle Schauspielhaus nannten und wo wir nach der Schule jeweils Kontakt zu den Jungs aus der Kantonsschule aufnahmen, fühlte ich mich nicht wirklich zugehörig. Alle schienen diese "openair Kontaktbörse" viel spannender zu finden, als ich selbst. Ich hatte zwar auch ab und zu einen Freund, aber dieses Kribbeln von Verliebt-Sein ist bei mir nie aufgekommen. Letztlich brachte mich aber einer dieser Schätze auf die Idee, mich beim Schweizer Fernsehen zu bewerben. Er arbeitete damals für eine Filmproduktionsfirma und war ausserdem Präsident vom Filmmittelschulclub, wo ich mich als Diplommittelschülerin sehr engagierte. Ich war schon immer theater- und filmaffin, aber ohne seinen Einfluss hätte ich mich kaum beim Fernsehen beworben und die Fähigkeitsprüfung für ein Volontariat als Bildmischerin und im Bereich Filmskript gemacht. Es war also ein Mann, der den Grundstein für meine berufliche Ausrichtung legte und interessanterweise war es nach dieser Ausbildung wieder ein Mann, der meinem Berufsleben eine weitere Wendung gab. Mit dem ersten verband mich eine zweijährige Beziehung, mit dem zweiten eine Phantasie einer möglichen Liebe. Das mit der Liebe war für mich zwar nach wie vor nicht so ganz klar. Bereits mit 18 hatte ich einen total erotischen Traum mit einer Frau. Später, während meiner Erstausbildung beim Fernsehen, gab es ein paar lesbische Frauen und ich habe immer gedacht: Das ist mein Ziel, dass ich bis 30 noch mit einer Frau schlafe.

Doch vorerst ging es in meinem Leben um den Beruf. Ich hatte relativ rasch realisiert, dass mir die Arbeit als Bildmischerin zu langweilig wurde, dass es mich nicht erfüllte, schon fertig Gedachtes umzusetzen. Ich wusste, ich musste etwas ändern, wusste aber nicht, in welche Richtung es gehen sollte. Mit meiner von den 50er-Jahren geprägten Frauenbiografie hatte ich das Gefühl, ich wäre die perfekte Assistentin. Eine bestimmene Position hingegen? Nein, niemals. Ganz nach dem Motto: Regie ist zu viel, aber ich wäre eine gute Regie-Assistentin. Im Nachhinein betrachtet, hätte mich das wohl kaum glücklich gemacht. Genau zum richtigen Zeitpunkt bin ich also auf besagten zweiten Mann getroffen, durch den mein Berufsleben eine entscheidende Wende nahm. Dank ihm kam ich 1974 zum Journalismus und in ein Pressebüro nach Biel. Beides war nicht besonders naheliegend. Das kann ich doch nicht, ich kann doch gar nicht schreiben.


Innert vier Jahren wurde das Team im Büro fast verdoppelt, da wir eine neue zweisprachige Gratiszeitung herausgaben. Diese stand in Konkurrenz mit der bürgerlichen Tageszeitung, die jede andere Denkrichtung schlichtweg ignorierte. Entsprechend erfolgreich war unser Gratisblatt, das alternatives Gedankengut einfliessen liess.

Durch die Vergrösserung des Büros kam dann eine Zürcherin ins Team, die ich schon ab und zu im Fernsehen gesehen hatte. Coup de foudre! Dieses Gefühl der Verliebtheit, dass ich bis dahin noch nicht kannte. Und zugleich kamen auch die Fragen: Ja, wie lebe ich das jetzt? Wo finde ich meinen Platz, wenn ich jetzt diese heteronormativ geprägten Strukturen verlasse? Werde ich dann erst recht ausgegrenzt? Niemand konnte mir diese Ängste nehmen oder mir Antworten geben. Hätte es in den Jahren meiner Identitätssuche ein paar Frauen gegeben, die wirklich sichtbar zu ihrer sexuellen Orientierung gestanden hätten, hätte ich mir ein nicht traditionelles Lebensmuster als eigenen Lebensentwurf besser vorstellen können.

Trotzdem kam ich mit der Frau zusammen und wir blieben sechs Jahre lang ein Paar. Es war nicht immer einfach, vor allem auch, da sie damals kein Coming-out machen wollte. Ich musste mich für sie verstecken, selbst, als ich das selber nicht mehr wollte.


Die Suche nach dem Gefühl, wirklich dazuzugehören, war also immer ein bisschen ein Thema von mir. Das liegt, wie wohl alle grossen Themen unserer Biografien, sicherlich zu einem Teil an gesellschaftlichen Prägungen. Geäussert hat es sich oft in Situationen, wo ich Frauen generell und lesbische Frauen im Speziellen nicht als gleichwertigen Teil der Gesellschaft wahrgenommen hatte. Situationen, wo ich selbst auf das eine oder andere reduziert wurde oder manchmal selber die entsprechende Rolle einnahm, weil ich gar nicht anders konnte.


Mir war schon immer bewusst, dass Frauen nicht die gleiche Stellung haben und dass wir hinstehen und sagen müssen: «Es braucht Gleichwertigkeit». Ich kann mich an einen fürchterlichen Streit mit meinen Eltern erinnern, da war ich schon fast zwanzig. Ich sehe mich noch am Fusse ihres Ehebettes, wie ich mich am massiven Holz festhalte und auf sie einrede. Also eigentlich nur auf meinen Vater. Meine Mutter hat da nie Paroli geboten, obwohl sie doch selber auch berufstätig und in dieser Hinsicht für ihre Generation sehr emanzipiert war. Auch nachdem das Frauenstimmrecht eingeführt worden war, blieb sie der Ansicht, dass der Vater besser wusste, wie abgestimmt werden sollte. In meiner Schwester fand ich diesbezüglich auch keine Gesprächspartnerin. Sie wählte den traditionellen Weg. Kürzlich habe ich ihr einen Artikel zukommen lassen, der beschreibt, wie Medikamente an Männern getestet werden, da der weibliche Körper zu vielen hormonellen Schwankungen unterliegt, und wie viele Alltagsdinge an Männerbedürfnissen ausgerichtet werden: die Temperatur in Zügen und Grossraumbüros, die Handygrösse, Airbags. Dass die Frauen die Medikamente dann doch schlucken und mit anatomisch falsch ausgerichteten Airbags durch die Gegend fahren, wird halt so hingenommen. Meiner Schwester fiel es wie Schuppen von den Augen. Mir waren solche patriarchalen Strukturen, natürlich in den Ausprägungen der damaligen Zeit, schon vor fünfzig Jahren klar und ein Dorn im Auge. Grundsätzlich habe ich einfach einen sehr ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, der aber oft als rebellisch-kämpferisch wahrgenommen und manchmal völlig willkürlich mit meiner sexuellen Orientierung in Verbindung gebracht wurde.


«Könnt ihr deshalb nicht zusammenarbeiten, weil ihr beide homosexuell seid?»

Einmal, das war schon nach 2000, habe ich die Stellvertretung einer Fernsehsendung abgegeben, weil ich nicht mehr hinter den Entscheidungen des Sendeleiters stehen konnte. Er hatte ein super Gespür dafür, Quereinsteiger zu finden, die journalistisch neu und interessant an Geschichten herangingen. Kaum steckten diese Personen aber wie Spargeln ihre Köpfe aus der Erde, hat er sie klein gemacht und zerrissen. Das konnte ich als Stellvertreterin nicht hinnehmen und so indirekt gutheissen, also bin ich, natürlich nach Gesprächen und Schlichtungsversuchen, ausgestiegen. Eine HR-Frau des Schweizer Fernsehens fragte mich später, als es um die Besetzung einer Sendeleitungsstelle ging, ob unser Konflikt darauf beruhte, dass wir beide homosexuell seien. Da handelst du beruflich und menschlich integer, wirst aber auf deine private sexuelle Orientierung reduziert. Niemand am Tisch hätte etwas gegen diese Interpretation der Lage gesagt. Dabei hatte nicht nur ich Probleme mit dem Stil dieses Sendeleiters. Drei Redaktions-Teams hatten schon Briefe an die HR geschrieben und nach meinem Abgang dann auch die Freistellung des Leiters bewirkt.


Natürlich sind das verhältnismässig kleine Episoden in einer ganzen Berufskarriere. Ich hatte letztlich im Fernsehen viele erfüllende journalistische Aufgaben in diversen Funktionen und wurde geschätzt und ernst genommen. Und spätestens beim Schreiben meiner beiden Bücher wusste ich auch: "Ich kann schreiben". Aber es sind genau solche Erfahrungen, gesellschaftliche wie individuelle, die unsere queeren Biografien prägten und prägen und die uns verbinden. Mitunter aus diesem Grund engagiere ich mich seit meiner Pensionierung im Verein queerAltern und für das Pionierprojekt QUEER WOHNEN in der Zürcher Altersüberbauung Espenhof. Wir wurden oft gefragt, weshalb Alterswohnungen und Pflegewohngruppen für LGBTQ-Personen nötig seien. Wieso wollt ihr euch wieder ausschliessen, jetzt, wo ihr endlich in der Gesellschaft angekommen seid? Wieso sollen wir uns selber ausschliessen und abgrenzen? Dabei geht es eben genau nicht um Ausschluss, sondern um verbindende Elemente in unseren Biografien. Es gibt viele Eckdaten, die für uns einen entscheidenden Einfluss hatten und die heterosexuelle Personen viel weniger, anders oder gar nicht tangierten.

Schwulenregister, AIDS, die Definition der WHO von Homosexualität als psychische Krankheit noch bis 1992. Ja selbst die Tatsache, dass es mitunter verletzend ist, wenn noch im Jahr 2021 die ganze Schweiz darüber diskutieren und abstimmen darf, ob deine Lebensrealität gleichwertig mit heteronormativen Lebensentwürfen ist. Vor 50 Jahren habe ich als Frau die Gleichberechtigung bekommen, als Frau und Lesbe erst jetzt, mit 70! Viele von uns mussten sich in irgendeiner Form verbiegen oder gar verstecken – es kann ja nicht sein, dass wir das im Altersheim erneut tun müssen.

Selbstverständlich geht es bei diesen verbindenden Elementen nicht nur um erlebte Schwierigkeiten. Vielleicht möchte man ja auch einfach nur in Erinnerungen schwelgen, sich über eine vergangene Pride oder eine Reise ins bunte San Francisco der 90er-Jahre austauschen. So wie junge Eltern auf dem Spielplatz oder Hundebesitzer im Wald, haben wir einfach sofort gemeinsame Gesprächsthemen und Anknüpfungspunkte.











Das allumspannende Leitbild der ganzen Überbauung ist «Gelebte Vielfalt». Niemand verlangt und geht davon aus, dass sich die queeren Bewohner_innen abschotten. Vielmehr steht die Verbindung zu den anderen Häusern und zum angrenzenden Quartier im Zentrum. Der Unterschied zu anderen Wohnkonzepten ist einfach, dass queere Menschen und ihre Lebensgeschichten an diesem Lebensort uneingeschränkt, unzensiert und sichtbar Raum einnehmen dürfen.


Ich persönlich spekuliere nicht auf einen Platz im Espenhof. Obwohl ich gerne dort leben würde, falle ich weniger unter die Auswahlkriterien als andere. Aber das Projekt ist ganz in meinem Sinne, ist eine Aufgabe, in die ich wirklich aus tiefstem Herzen meine Energie und Zeit stecke. Während mich heute in anderen Kontexten noch ab und zu das Gefühl beschleicht, doch nicht wirklich ganz dazuzugehören, im Ruder-Club zum Beispiel, wo viele Witze, Bemerkungen und Verhaltensregeln im Grunde genommen Heterospielchen sind und wo meine Partnerin und ich mit unserer Lebensrealität eben doch eine Minderheit sind, fühle ich mich im Verein queerAltern zum ersten Mal so richtig zugehörig.

Hier bin ich Teil einer Gemeinschaft von Menschen mit ähnlichen Zielen und ähnliche Biografien und das ist – trotz all unserer Unterschiede und gewisser Meinungsverschiedenheiten - wunderbar verbindend.


Come together & go further





Bildquellen

  • Foto von Barbara Bosshard (2020), Präsidentin von queerAltern – Copyright Sandra Meier / www.gestaltungskiosk.ch
  • Bilder (verändert) aus San Francisco (Foto mit damaliger Partnerin; Foto von der AIDS Nightline): aus dem Fotoalbum der Interviewpartnerin, 1992
  • Bild (verändert) von der Pride 2019 mit heutiger Partnerin, verändert basierend auf einem Foto von Caroline Bisang
  • übrige Bilder, auch Golden Gate Bridge: Unsplash


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